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Zum Konflikt Kirche / Regierung in Armenien

Aktualisiert: 18. Aug.

Offener Brief vom Nationalrat Stefan Müller-Altermatt,


Liebe Armenierinnen und Armenier,


Ich bin seit 14 Jahren Abgeordneter im Schweizer Parlament. Und ich habe einen Adoptivsohn aus Armenien. Ich habe also armenisches Blut in der Familie, aber nicht in den eigenen Adern. Mit der Erfahrung eines Parlamentariers in einem der politisch stabilsten Länder Europas und mit dem Herzblut des Vaters eines Armeniers möchte ich mich heute an Sie wenden.

Ich möchte Ihnen berichten, wie es um die Schweiz vor 150 Jahren stand. Die Schweiz war damals ein «Armenhaus Europas», ein gebirgiger Kleinstaat ohne eigene Rohstoffe, umgeben von sich bekriegenden Grossmächten. Das politische Klima in der Schweiz war vergiftet. Die ersten Jahrzehnte ihres Bestehens litt die Schweiz unter einem quer durch die Gesellschaft verlaufenden Graben zwischen Katholisch-Konservativen und Liberalen. Die Rolle der Kirche im Staat war das beherrschende Thema der politischen Debatte und der Lackmustest für die junge Nation.

Selbstverständlich ist die Geschichte kein Wiederholungstäter. Und die Ausgangslage für die Schweiz war eine andere. Frankreich, das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn bekriegten sich zwar, übten aber nicht Druck auf die Schweiz aus wie heute Russland und die Türkei auf Armenien. Und vor allem hat die Schweiz keinen Völkermord durchleben müssen, der sich traumatisch ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.

Und doch gibt es Lehren aus dem Gang der Geschichte, welche man vielleicht von der Schweiz auf Armenien übertragen kann. Was führte dazu, dass die Schweiz so lange Zeit ihre Eigenstaatlichkeit bewahren konnte, zu einem enorm stabilen Land wurde und darüber hinaus noch beachtlichen Wohlstand erreichte?

Wir dürfen uns nichts vormachen: Es war insbesondere der gute Wille der Grossmächte, welcher die Eidgenossenschaft in Frieden gedeihen liess. Es war aber auch die Weitsicht unserer politischen Vorfahren, die zur Kontinuität beitrugen. Als 1848 die erste schweizerische Bundesverfassung in Kraft trat, war die Schweiz ein mindestens so stark vom Christentum geprägter Staat wie das heutige Armenien. Und der Zwist rund um Kirche und Staat war ebenso präsent. Mit der ersten schweizerischen Bundesverfassung wurden 1848 die Minderheiten geschützt, es wurden dezentrale Verwaltungsstrukturen gestärkt und die Mitspracherechte der Bevölkerung wurden zementiert. All dies war nicht im Interesse der damals regierenden Liberalen. Sie machten aber einen Schritt auf ihre politischen Gegner, die Katholisch-Konservativen zu – und sicherten dadurch den politischen Frieden.

Doch auch die Kirche musste einen Schritt machen. Sie musste akzeptieren, dass der Staat alleine die politische Richtung vorgibt. Die Kirchen wurden zwar als «Landeskirchen» akzeptiert und mit dem Recht ausgestattet, Steuern eintreiben zu dürfen, sie mussten im Gegenzug aber selber demokratisch gesteuerte Strukturen aufbauen.

Das Ende des Streits zwischen Kirche und Staat und die Stärkung der freiheitlichen Rechte des Volkes. Diese beiden Stossrichtungen haben dem Schweizervolk enorme Freiheit verliehen. Und wenn diese Freiheit im Innern gegeben ist, dann wird auch die Freiheit gegen aussen gesichert sein.

Denn genau dies lehrt uns nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart: Ein Land bewahrt seine Freiheit und Eigenständigkeit dann, wenn es auch gegen innen frei und unabhängig ist. Wenn also nun in den nächsten Stunden, Tagen oder Wochen ein Friedensabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan geschlossen werden sollte, dann ist wichtiger als der Inhalt des Abkommens die Frage, wie man in Armenien selber damit umgeht.

Es wird Armenien nichts bringen, wenn Kirche und Staat sich wegen des Abkommens oder wegen Bergkarabach streiten. Vielmehr dürfte die Kirche einfach als Einfallstor für Russland dienen, damit dieses seine Interessen durchsetzen kann. Russland und seine undemokratischen, kleptokratischen Eliten warten auf diese Gelegenheit. Und Alijew wird jeden Aufruhr in Armenien nutzen, um eine «armenische Gefahr» heraufzubeschwören und Sjunik zu überrennen.

Ich wünsche Armenien von Herzen, dass es zu innerer Ruhe und Freiheit findet. So könnte sich im Kaukasus wiederholen, was einst in den Alpen geschah: Dass ein gepeinigtes Bergvolk zu fortwährender Unabhängigkeit und Wohlstand kommt. Dank stabilien Institutionen, guten Beziehungen zu den Nachbarn und vielleicht – ungeachtet der Rolle der Kirche – auch durch Gottes Beistand.

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