Neutralismus statt Verfassungsauftrag? Die Schweiz in Armenien
- werner vangent
- 17. März
- 6 Min. Lesezeit
Werner Thut, Hans-Lukas Kieser, März 2025

Neutralistische Kalkül, wo Konfliktgefahr besteht – oder aktives Eingreifen, wie es die Bundesverfassung gebietet? Ein aktueller Anwendungsfall des schweizerischen Dilemmas ist Armenien. Dort hat Bern sich vor einigen Jahren aus den Versuchen verabschiedet, den Konflikt mit dem Nachbarland Aserbaidschan beizulegen, und den Akzent wurde auf die Entwicklungszusammenarbeit gelegt. Im Rahmen der finanzpolitischen Sparprogramme soll nun auch sie beschnitten werden.
Der Artikel wurde zuerst von der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik veröffentlicht und basiert auf einem wissenschaftlichen Arbeitspapier, das auf Deutsch und Französisch verfügbar ist.
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Armenien, der Kleinstaat (weniger als 3 Millionen Einwohner) zwischen dem Schwar-zen und dem Kaspischen Meer, steht unter Druck. Der Nachbar Aserbaidschan hat 2020 in grossem Umfang Gebiete zurückerobert, die seit 1994 von Armenien besetzt waren. Ende 2023 hat Aserbaidschan auch noch die armenische Exklave Nagorno-Karabach gewaltsam annektiert und droht regelmässig mit neuer militärischer Gewalt. Die militärisch geschwächte Regierung, die innenpolitisch unter Druck steht, setzt auf Friedensverhandlungen, deren Aussichten ungewiss bleiben. Die Lage Armeniens ist prekär.
Die Schweiz ist davon betroffen, weil sie sich in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts aktiv an Friedensbemühungen beteiligt hatte, mit ihrer Entwicklungszusammerbeit ein grosses Reputationskapital aufgebaut hat. Und weil die Zielsetzungen der Bundesverfassung (Einsatz für «Achtung der Menschenrechte”, “Förderung der Demokratie”, “friedliches Zusammenleben der Völker”, «Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen» ) auf dem eigenen europäischen Kontinent und im Südkaukasus in Frage gestellt sind.
Unser Land ist seit mindestens 150 Jahren eng mit Armenien verbunden. Doch in jüngster Zeit haben sich die Rahmenbedingungen grundlegend verändert. Wichtige Stichworte sind die sicherheitspolitische Lage Armeniens, die geopolitischen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs und in der Schweiz der Ausbau der Armee, der auch auf Kosten der internationalen Zusammenarbeit gehen soll.
Das armenische Volk – Opfer von Grossmachtpolitik von 1878 bis heute
Die «armenische Frage» nach der Zukunft des im späten Osmanischen Reich offenkundig gefährdeten armenischen Volks rückte am Berliner Kongress 1878 ins Zent-rum westlicher Nahostdiplomatie. Eine glaubwürdige Antwort blieb aus. Die schweren Massaker an der armenisch-osmanischen Zivilbevölkerung 1895 bewegten die Schweiz und führten 1896 zur bisher stärksten, nahezu eine halbe Million Unterschriften zählenden Petition an den Bundesrat. Es blieb nicht dabei. Zivile Armenierhilfe leistete für Jahrzehnte Not- und Wiederaufbauhilfe. Eine wichtige Rolle spielten die Kirchen (Armenien ist christlich). Zudem wurde die Schweiz seit dem späten 19. Jahrhundert zum Studienort für viele Armenierinnen und Armenier aus dem russischen und osmanischen Reich, und Genf zu einem Zentrum für armenische Publikation und Agitation.
Sultan Abdulhamid (1876-1908) herrschte damals über ein Reich in der Krise, das geschwächt war durch Finanzkrisen, Kriege, Separatismus im Balkan und Druck Russlands und der Westmächte. Seine Antwort auf die «christliche Bedrohung» war Islamismus, nämlich eine Politik sunnitischer Einheit. Das machte die osmanischen Armenier und Armenierinnen, die egalitäre Reformen forderten, zur Zielscheibe. Junge, militante armenische Organisationen organisierten Selbstverteidigung und strebten grundlegende Veränderungen an.
Zwar gab es bei der Revolution von 1908 ein Bündnis zwischen den Jungtürken und der Armenisch-revolutionären Föderation, die ihre Auslandzentrale in Genf hatte. Aber die Jungtürken schwenkten bald auf einen imperialen türkisch-islamischen Ultranationalismus um. 1913 errichteten sie eine Parteidiktatur. 1914 entschieden sie sich zum Eintritt in den 1. Weltkrieg an der Seite Deutschlands. Sie verloren diesen Krieg, aber in seinem Schatten hatten sie einen Völkermord an den Armeniern und weiteren Christen durchgeführt, um so das multiethnische anatolische Kernland ihres Grossreich zu «homogenisieren». Rund 1 Million armenische Männer, Frauen und Kinder starben deshalb 1915-22, etwa die Hälfte durch Massaker.
Diese «Errungenschaft» wurde nach 1918 weitergeführt. Denn die neue nationalistische Regierung in Ankara setzte sich aus ehemaligen Jungtürken zusammen. Sie verbündeten sich 1920 mit den Bolschewiken, teilten den Südwestkaukasus unter sich auf und gewannen den Krieg in Anatolien gegen Armenier, Kurden und Griechen. Die Pläne der Siegermächte und des Völkerbunds für ein Armenien mit Teilen Ostanatoliens wurden somit hinfällig. Die 1918 gegründete Republik Armenien wurde zur Sowjetrepublik. Von ihr trennte Moskau trotz anfänglicher Zusage das armenische Karabach ab. Der Vertrag von Lausanne bestätigte 1923 diesen Status quo.
Seit dem Ende der Sowjetunion ist Armeniens Entwicklung vom Konflikt um Nagorno-Karabach geprägt. 1991 wurde die Dritte Republik gegründet. Der erste Karabach-Krieg (1992-1994) endete mit der armenischen Kontrolle über die Region und angrenzende Gebiete. Hunderttausende Azeris waren geflohen oder vertrieben worden. Der Konflikt fand ein vorläufiges Ende, doch der Ausgang des Krieges legte den Grundstein für einen neuen Krieg, den Baku systematisch vorbereitete.
2008 folgten auf die armenischen Präsidentschaftswahlen schwere Unruhen. Sie führten zu einem Machtwechsel und einer verstärkten autoritären Ausrichtung der Regierung unter Präsident Sersch Sargsjan. 2013 entschied sich Armenien, die Assoziierung mit der Europäischen Union abzulehnen und trat stattdessen der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion bei. Die langjährige autoritäre Ära wurde durch die „Samtene Revolution“ 2018 beendet. Premierminister Paschinjan leitete demokratische Reformen ein und markierte eine Annäherung an Europa.
Im Herbst 2020 lancierte Aserbaidschan einen Angriffskrieg, der zu Gebietsverlusten für Armenien führte. Im Herbst 2023 annektierte Aserbaidschan ganz Nagorno-Karabach gewaltsam. Die ethnische Säuberung, die damit einherging, zwang mehr als 100’000 Menschen zur Flucht nach Armenien. Die bereits angespannten Beziehungen zum einstigen strategischen Partner Russland verschlechterten sich weiter und führten zu gezielten Anstrengungen Armeniens für eine geopolitische Neuausrichtung nach Westen.
Die Schweiz in der Verantwortung
Was sind die Implikationen dieser Situation für die Schweiz? Haben wir Handlungsbedarf? Und haben wir Handlungsmöglichkeiten?
Anders als im 19. und frühen 20. Jahrhundert ist Armenien nicht mehr nur Symbol für humanitäre Notstände, Menschheitsverbrechen und ein dem Westen fernes «Opfervolk» weit «hinten in der Türkei». Armenien ist seit 1991 ein unabhängiger Staat, mit dem die Schweiz diplomatische Beziehungen pflegt. Seit 2018 ist es das demokratischste Land der Großregion, aber umso gefährdeter.
Die Schweiz hat damit die Möglichkeit, gemäss ihrer Bundesverfassung zu handeln. Wie, hängt von politischen Entscheiden in Bern ab. Diese sind unterschiedlich ausgefallen. Bis über die Mitte der 2010er Jahre hinaus prägten eine aktive bilaterale Politik gegenüber Armenien sowie mehrere regionale und multilaterale Friedensinitiativen die politischen Beziehungen – unter der klaren Führung der damaligen EDA-Vorsteher Calmy-Rey und Burkhalter.
Mit dem Departementswechsel zu Ignazio Cassis im Jahre 2017 fand ein Wechsel in der bundesrätlichen Politik statt. Universelle Werte und völkerrechtliche Normen werden zwar weiterhin als Referenzwerte anerkannt. Ein realer Gestaltungswille zur Förderung internationaler Gerechtigkeit, Frieden und nachhaltiger Entwicklung im Südkaukasus lässt sich jedoch nicht mehr erkennen. Seit 2018 werden die bilateralen Beziehungen gegenüber Armenien nur noch mit minimalem Aufwand gepflegt. Offiziell nahm die Schweiz nie direkt Stellung zur “Samtenen Revolution” von 2018. Im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wahrt die Schweiz aus Rücksicht auf Interessen gegenüber Aserbaidschan eine äquidistante Haltung. Eine Unterscheidung zwischen Aggressor und Opfer nahm sie nie vor. Sie fordert beide Konfliktpar-teien auf, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen, insbesondere den Schutz der Zivilbevölkerung, einzuhalten. Sie bot auch regelmässig an, hochrangige Treffen zur Förderung des Dialogs zu organisieren, sofern beide Seiten dies wünschten. Darüber hinaus unternahm jedoch keine eigenen spezifischen Initiativen.
Entwicklungszusammenarbeit im Zentrum
Eine eigenständige Rolle spielt hingegen die Entwicklungszusammenarbeit (EZA). Sie war seit 1988 Wegbereiterin und Kernstück der Schweizer Präsenz in Armenien. Ab dem Jahr 2000 und insbesondere nach 2020 kam zum Kerngeschäft der humanitären Hilfe und Armutsbekämpfung eine Perspektive der Konfliktprävention. Wichtige Impulse gingen auch von der “Samtenen Revolution” 2018 aus: Neben der traditionellen Armutsbekämpfung rückte die Sicherung der demokratischen Errungenschaften der Revolution in den Mittelpunkt des Engagements.
Dank der EZA gilt die Schweiz heute als kompetenter, zuverlässiger und berechenbarer Partner für langfristig angelegte, wirkungsvolle und bevölkerungsnahe Kooperationsprojekte. Daher die hohe Wertschätzung, die ihr von der armenischen Bevölkerung, den Behörden und auch internationalen Partnern entgegengebracht wird.
Heute steht die Armenienpolitik der Schweiz an einem Wendepunkt: Nachdem die politischen Beziehungen bereits stark an Substanz verloren haben, gerät nun auch die EZA auf bisherigem Niveau ins Wanken. Hauptverantwortlich dafür sind die Parlamentsentscheide zugunsten des Militäraus-baus auch auf Kosten der Entwicklungsfinanzierung. Wie exemplarisch sichtbar in Armenien, gehen die Einsparungen zulasten des wichtigsten zivilen Beitrags der Schweiz zu einer globalen sicherheitspolitischen Ordnung.
Daran dürfte auch das Engagement einer aktiven parlamentarischen Gruppe und der außenpolitischen Kommissionen für eine verstärkte Friedenspolitik zugunsten Arme-niens und der Region wenig ändern. Der Grund liegt in der verfassungsmäßigen Zuständigkeitsordnung, die dem Bundesrat in der Außenpolitik weitgehende Gestaltungsfreiheit einräumt. Andere Akteure, etwa die Kirchen und die armenische Diaspora in der Schweiz können für fehlende bundesrätliche Gestaltung nicht in die Bresche springen.
Es besteht Spielraum für die Schweizer Aussenpolitik gegenüber Armenien. Gleichzeitig ist die politisch-moralische Verantwortung der Schweiz gewachsen – als reichstes Land der Welt, als internationales Schwergewicht humanitärer Tradition, als zeitweiliger Gesprächspartner am Tisch des UNO-Sicherheitsrat. Spielraum und Verantwortung muss sie allerding mutig nutzen, um Artikel 54 BV glaubwürdig und umfassend zum Tragen zu bringen, anstatt sich auf einen neutralistischen Opportunismus zurückzuziehen. Seit zehn Jahren tut sie dies in Armenien nur noch eingeschränkt durch die EZA, und selbst dieses Engagement ist heute in seiner Zukunft ungewiss.
Die Autoren
Werner Thut ist ein ehemaliger Diplomat und war bis Juni 2024 verantwortlich für das DEZA-Programm in Armenien. Prof. Dr. Hans Lukas Kieser ist Historiker und hat bis 2024 an den Universitäten Newcastle/Australien, zuvor Zürich zum modernen Nahen Osten geforscht. Der Artikel basiert auf einem längeren Arbeitspapier, das in deutscher und französischer Sprache vorliegt: