„Lausanne in Frage zu stellen bedeutet nicht, den Staat zu zerschlagen, sondern die Demokratisierung zu diskutieren“
- Arch Network
- 4. Juni
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Aktualisiert: vor 4 Tagen

Interview von Burcu Karakaş mit Hans Lukas Kieser über den Vertrag von Lausanne von 1923. Es ist auf Türkisch in der Agos-Zeitung erschienen: https://www.agos.com.tr/tr/yazi/32670/lozani-sorgulamak-devleti-yikmak-degil-demokratiklesmeyi-tartismaktir
Agos ist eine Zeitung aus Istanbul, die von Hrant Dink – einer wichtigen armenischen Stimme in der Türkei, gegründet worden ist. Hrant Dink hat sich sein Leben lang bemüht, Brücken zwischen Türken und Armenier aufzubauen. 2007 ist er aber von einem türkischen Nationalisten auf offener Strasse vor dem Eingang seiner Agos-Zeitung ermordet worden. |
Am 12. Mai hat die PKK ihren Auflösungsbeschluss bekannt gegeben, der das Ende ihres jahrzehntelangen bewaffneten Kampfes bedeutet. Obwohl diese historische Entscheidung verschiedene Debatten ausgelöst hat, sind die Abschnitte in der Erklärung über den Vertrag von Lausanne eines der hitzigsten Themen gewesen. In der Erklärung heißt es, die Organisation sei „gegen die kurdische Verleugnungs- und Vernichtungspolitik gegründet worden, die ihre Wurzeln im Vertrag von Lausanne und in der Verfassung von 1924 hat.“ In der Erklärung wird darauf hingewiesen, dass der Vertrag von Lausanne die kurdisch-türkischen Beziehungen problematisiert hat, und es wird auf die Verfassung aus der Zeit vor 1924 verwiesen, in der die beiden Völker als gemeinsames, konstituierendes Element aufgenommen wurden.
Hans-Lukas Kieser, Professor für Neuere Geschichte, ist bekannt für seine Arbeit über die Lausanner Konferenz und den Vertrag von Lausanne und war von 2005 bis 2015 Präsident des Vereins Studien- und Forschungsstelle Schweiz-Türkei (SFST) in Basel. Wir sprachen mit Kieser, dem Autor von When Democracy Died: The Middel East's Enduring Peace of Lausanne (Cambridge University Press 2023, auf Deutsch auch bei Chronos, Zürich) über den Vertrag von Lausanne und seine Folgen. Von den Rechten der Kurden in der Türkei bis hin zu den historischen Debatten über die Gründung der Republik und die Zeit davor.
* Die Betonung des Lausanner Vertrags in der Erklärung der PKK hat eine heftige Debatte ausgelöst. Waren Sie von dieser Reaktion überrascht?
Nein. Denn der Vertrag von Lausanne ist ein quasi heiliger Eckpfeiler der türkischen republikanischen Geschichte. Ihn in Frage zu stellen, bedeutet, die Denkweise der Gründerkohorte, einschließlich Atatürk, in Frage zu stellen. Lesen Sie nur die langen Passagen über Lausanne in Gazi Kemals Nutuk! Sie gipfeln in der Lobpreisung „eines beispiellosen politischen Sieges“, der „den Zusammenbruch eines großen mörderischen Komplotts, das seit Jahrhunderten gegen die türkische Nation vorbereitet worden war“, sicherte. Entsprechend dieser historischen Denkweise ist die Infragestellung von Lausanne für viele gleichbedeutend mit einem Komplott gegen die türkische Nation. Es fällt ihnen schwer zu verstehen, dass eine aufrichtige Analyse notwendig ist, um tief verwurzelte Probleme zu überwinden, Geburtsfehler zu heilen und sogar um die „türkische Nation“ neu zu konzipieren. Die Nutuk haben den Vertrag von Sèvres, in dem die ethnisch-religiöse Pluralität Anatoliens anerkannt wurde, als den Höhepunkt eines jahrhundertealten westlichen Komplotts gegen die Türkei betrachtet.
* Was waren die Hauptdivergenzen in der Kurdenfrage vor dem Lausanner Vertrag?
Die kurdische Autonomie war das heikle Thema. Der Vertrag von Sèvres von 1920 sah sogar einen kurdischen Staat in Mesopotamien vor, der Teile der Südosttürkei und des Nordiraks umfasste, unter der Voraussetzung eines erfolgreichen Referendums und der Genehmigung durch den Völkerbund. Dies veranlasste die neue Regierung in Ankara, den Kurden falsche Versprechungen über die künftige Autonomie und auch über die Erhaltung des Kalifats zu machen. Die Mehrheit der kurdischen Führer kämpfte im traditionellen Geist der sunnitischen kaiserlichen Brüderlichkeit vom Ersten Weltkrieg bis 1922, als Ankara seinen Krieg um die Vorherrschaft in ganz Anatolien mit kurdischer (und bolschewistischer!) Hilfe gewann. Die meisten Gründer und Kader der neuen Regierung in Ankara stammten aus den Reihen des Komitees für Einheit und Fortschritt, deren Regime im Ersten Weltkrieg eine Politik der Türkisierung gegen die Kurden begonnen hatte. Hinter den Kulissen wurde diese Politik in Ankara von Anfang an fortgesetzt, siehe z.B. den Auftrag von Minister Rıza Nur an Ziya Gökalp, eine Studie in diesem Sinne zu schreiben. Sie lebten in der tödlichen Illusion, dass die Kurden an ihre Vorstellung vom türkischen Nationalismus assimiliert werden könnten. Die Türkisierungspolitik Ankaras trat jedoch erst in den Vordergrund, nachdem der erfolgreiche Abschluss des Vertrags von Lausanne die Position des herrschenden Kreises um Gazi Kemal gestärkt hatte.
* Die Unterkommission Minderheiten hatte sich ursprünglich dafür ausgesprochen, den Entwurf der Schutzmaßnahmen nicht nur auf nicht-muslimische, sondern auch auf muslimische Minderheiten auszuweiten. Die türkische Delegation lehnte diesen Vorschlag jedoch mit der Begründung ab, es bestehe kein Bedarf an solchen Maßnahmen und die Kurden seien mit ihrer Situation zufrieden. Wie kam es dazu, dass diese Forderung aufgegeben wurde?
Die westlichen Mächte bestanden nicht darauf, auch wenn dieser Verzicht gegen ihre Prinzipien verstieß. Denn der Deal mit Ankara hatte Priorität, vor allem für Frankreich und Großbritannien, die einen friedlichen Nachbarn für ihre Mandate in Syrien und im Irak brauchten. Die Lösung der Mosul-Frage in ihrem Sinne war Teil der imperialen Priorität Großbritanniens. Die Konferenz von Lausanne ist der Wendepunkt, an dem der Minderheitenschutz und andere Verfassungspostulate – echte Demokratie in all ihren Dimensionen – generell aufgegeben wurden. Zuvor waren sie vor und während der Gründung des Völkerbundes, der 1919-21 mit den neuen Staaten Osteuropas und des Balkans Minderheitenschutzverträge abschloss, sehr stark gewichtet worden. Dies war bei der Regierung in Ankara im Jahr 1923 nicht der Fall.
* Bedeutet die Infragestellung von Lausanne eine Infragestellung der Grundlagen der türkischen Republik?
Mit einer konstruktiven Haltung zu hinterfragen bedeutet nicht, den Vertrag von Lausanne zu annullieren oder das Gemeinwesen, das sich Republik Türkei nennt, auflösen zu wollen. Im Gegenteil, ernsthaftes Hinterfragen in einer konstruktiven Haltung zielt darauf ab, die ausweglose Situation zu überwinden, die damit zusammenhängt, wie Lausanne von der Gründerkohorte und ihren Nachkommen aufgenommen und genutzt wurde. Ernsthaftes Hinterfragen ist der einzige Weg, um eine echte Chance zu haben, die Wurzeln der schrecklichen Konflikte anzugehen, die offensichtlich die vollständige Demokratisierung und die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei aufhalten, zu wirtschaftlichem Elend und anhaltenden sozialen Unruhen beigetragen und Zehntausende von Menschenleben gefordert haben.
* Hätte ein ausdrücklicher Verweis auf die Kurden im Vertrag von Lausanne die Art und Weise, wie die Kurdenfrage behandelt wurde, verändert? Mit anderen Worten: Kann Lausanne als Ausgangspunkt der Kurdenfrage betrachtet werden?
Die Verbündeten hätten auf einem starken und ausdrücklichen Verweis auf die Kurden im Vertrag bestehen können, der zumindest ihre grundlegenden Minderheitenrechte unmissverständlich klargestellt hätte (Sprache, Presse, Schulen, Verwendung der kurdischen Sprache in der Verwaltung und vor Gericht usw.). Dies hätte es Ankara sicherlich sehr schwer gemacht, die kurdischen Rechte und die kurdische Realität so lange zu verleugnen, wie es dies tat (entgegen einigen wichtigen Passagen des Lausanner Vertrags). Die türkische Delegation fürchtete die armenische Frage viel mehr als die Kurdische: zum einen wegen ihrer Ernsthaftigkeit (territorial, rechtlich und historisch) und zum anderen, da in der Stadt eine armenische Delegation anwesend war, die ihre Sache vorantrieb. Die kurdischen Vertreter stellten sich entweder auf die Seite Ankaras oder sie glänzten durch Abwesenheit in Lausanne.
*Wie hat sich diese unterschwellige Angst auf die Aussichten für ein türkisch-kurdisches politisches Bündnis ausgewirkt?
Die Furcht vor armenischen Forderungen nach der osmanischen Niederlage im Ersten Weltkrieg war eine der Hauptmotivationen für das türkisch-kurdische politische Bündnis während der Kriege in Anatolien. Die armenischen Ansprüche und Erwartungen umfassten die Rückkehr in ihre Heimatregionen, Restitution, Entschädigung für Verluste, die strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen gegen sie und - als junger Nationalstaat - Territorium. All dies betraf Türken und Kurden und vereinte sie in einer gemeinsamen anti-armenischen Haltung. Doch als Ankara seine Kriege gewann und seinen diplomatischen Sieg auf der Lausanner Konferenz errang - d.h. die volle Anerkennung ohne ernsthafte Zugeständnisse an die Armenier, nicht einmal einen Bezirk für Rückkehrer unter Ankaras Souveränität - verschwand diese entscheidende gemeinsame Motivation und Ankara glaubte, auf kurdische Belange keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen.
* "Lausanne ist die Eigentumsurkunde der Republik Türkei. Wenn eine terroristische Organisation den Sieg über Lausanne erklärt, dann können der türkische Staat und diejenigen, die diesen Prozess leiten, nicht umhin, als Komplizen des Aufstandes betrachtet zu werden“, sagte der Vorsitzende der rechtsextremen iYi-Partei. Sind Sie mit dieser Aussage einverstanden?
Diese hetzerische Aussage verrät undifferenziertes dogmatisches Denken. Sie ist gleichbedeutend mit der Aufrechterhaltung bestehender Konflikte. In wessen Interesse? Was hier fehlt, ist der Mut und die historische Einsicht, Unrecht zu korrigieren. Diplomatiegeschichtlich gesehen ist der Vertrag von Lausanne zwar die „Geburtsurkunde“ der Republik Türkei. Das Problem ist jedoch nicht so sehr diese Urkunde, die als solche nicht in Frage gestellt wird, sondern ihr Kontext und der gesamte Charakter der Lausanner Konferenz. Diese ermöglichte es der bald etablierten kemalistischen Diktatur, einen ultranationalistischen Weg einzuschlagen, nicht nur, aber vor allem in der Kurdenfrage. Sie ließ wenig oder gar keinen Raum für demokratische Prozesse zur friedlichen Lösung. Eine egalitäre, partizipatorische und pluralistische Demokratie ist der einzig erfolgversprechende Weg zu einem guten Ende.
* Die Historikerin Ayşe Hür beschreibt den Vertrag von Lausanne als „einen Begriff, der zum Symbol für den Beginn eines hundertjährigen Krieges wurde, den der türkische Nationalismus gegen die nicht-türkischen Völker führte.“ Sind Sie mit dieser Interpretation einverstanden?
Diese Interpretation beschreibt die nur allzu reale dunkle Seite von Lausanne. In der Tat hat die Lausanner Konferenz die Geschichte, die Rechte und die große Not der nicht-türkischen, insbesondere der christlichen Völker Anatoliens, die in den Jahren 1914-23 mehr als jede andere Gruppe zu Opfern wurden, zum Schweigen gebracht. Nach ihnen waren es die Kurden, die am meisten betroffen waren. Die Träger des siegreichen türkischen Nationalismus, der das Jahrhundert nach 1923 bestimmte, versäumten es, Frieden mit denjenigen zu suchen und zu finden, die während der Gründungszeit ihres Nationalstaats (1913-38) an den Rand gedrängt und unterdrückt wurden. Einige andere Staaten haben die Herausforderung einer solch entscheidenden Versöhnung nach der Gründungsgewalt besser gemeistert. Es gibt aber auch eine, wenn nicht helle, so doch graue Seite von Lausanne: die äußerst wichtige Tatsache, dass der Vertrag von Lausanne ein Jahrzehnt lang andauernder Kriege in der osmanischen Welt beendete. Er gab der türkisch-muslimischen Mehrheit die Chance, in ihrem Türk Yurdu einen Neuanfang zu machen, und die lang unterbrochenen diplomatischen Beziehungen wiederherzustellen. Dies war 1923 wichtig, obwohl wir alle (zumindest heute) wissen, dass der immer noch gültige „Nahostfrieden von Lausanne“ weit davon entfernt war, der ehemaligen osmanischen Welt wirklichen Frieden zu bringen.
* In einer Erklärung aus dem Jahr 2023 erklärte die kurdische politische Bewegung, dass der Vertrag von Lausanne schwerwiegende Folgen für die Völker der Türkei hatte. „Während der Auflösung des Osmanischen Reiches suchten die Kemalisten im Namen der islamischen Brüderlichkeit die Unterstützung der Kurden und erklärten, dass der neue Staat ein gemeinsamer Staat von Türken und Kurden sein würde. Sie behaupteten auch, sowohl die Türken als auch die Kurden auf der Konferenz von Lausanne zu vertreten. Unmittelbar nach der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne haben sie jedoch alle diese Versprechen aufgegeben“, so die beiden. Könnte es sein, dass die aktuellen Debatten auch einen impliziten Widerstand der türkischen Seite gegen die Forderung nach gleicher Staatsbürgerschaft widerspiegeln?
Die aktuellen Debatten in der Türkei, soweit ich sie aus der Ferne verfolgen kann, verraten alle die Angst, etwas zu verlieren - d.h. die Privilegien der vergleichsweise dominanten Gruppen in der Gesellschaft -, anstatt die Chancen einer egalitäreren und pluralistischeren Gesellschaft zu nutzen, die den Kurden und anderen Gruppen ihre vollen Rechte und Pflichten innerhalb eines so gestärkten Gemeinwesens namens Türkiye zugesteht. Eine funktionierende Demokratie mit stabilen Institutionen bedeutet, dass die Macht auf allen Ebenen und zwischen allen verschiedenen Gruppen und Regionen geteilt wird. Deshalb ist sie so viel synergetischer, wohlhabender und friedlicher.