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Die «Albanisierung» armenischer Kulturgüter in Berg-Karabach

Aktualisiert: 19. März

Amalia van Gent



«Ich werde meine Augen mein Leben lang hassen», sagte Pater Derenik Sahakyan, «ich werde sie hassen, weil sie Zeugen eines Bergkarabachs ohne Armenier geworden sind». Der 35-jährige Pater war bis Ende September 2023 Abt des berühmten Klosters «Dadiwank» in Bergkarabach. Ich traf ihn, kurz nachdem der Krieg vom September 2023, den ein übermächtiges Aserbaidschan gegen die faktisch wehrlosen Armenier Bergkarabachs begann, die Geschicke dieser geographisch isolierten Region grundlegend veränderte und dem asketischen Leben Pater Dereniks ein jähes Ende setzte. Über 100.000 Menschen, die der aserbaidschanische Autokrat Ilham Alijew zuvor monatelang belagern und aushungern ließ, flohen damals innerhalb einer knappen Woche nach Armenien. Die Geschichte kennt etliche Beispiele ethnischer Säuberungen. Selten aber wurde eine in so kurzer Zeit vollzogen wie in Bergkarabach.


Vernichtung einer Kultur durch Waffen

Auch Pater Derenik und seine beiden Diakone mussten fliehen. «Nachts kehren die Bilder unserer Flucht wie ein nicht enden wollender Albtraum zurück», erzählte er. «Die gespenstische Stille der menschenleeren Dörfer und Städte, die nur vom Geheul hungriger Hunde und Katzen unterbrochen wurde; dann der Korridor von Latschin, voll mit zurückgelassenen Kleidern, Koffern und Leichen.» Pater Derenik ist offensichtlich der letzte Armenier, der im Dadiwank als Abt gedient hat.


Angstvolle Sorgen um die Zukunft des mittelalterlichen Klosters plagten ihn bei unserem Treffen: «Sind Waffen fähig, Kulturen auszulöschen?», fragte er immer wieder und er schien die Frage mehr an sich selbst zu richten; er war vezweifelt: «Wird die armenische Kultur aus Dadiwank genauso wie aus Anatolien ausgelöscht werden?». Während des ersten Genozids an den Armeniern des Osmanischen Reichs kamen zwischen 1915 und 1920 über 1,2 Millionen Menschen ums Leben; Die Zeugnisse der jahrtausendalten armenischen Kultur waren aus Anatolien getilgt.


«Dadiwank» ist dem Hl. Dad, einem Jünger des Apostels Thaddeus geweiht; der Klosterkomplex mit über 100 armenischen Bauinschriften teils aus dem 9. Jahrhundert stellt eines der bedeutendsten Zentren der armenisch-Apostolischen Kirche dar. «Unsere Aghia Sofia», nannte sie liebevoll Pater Derenik. Wie Aghia Sofia für die Welt der Orthodoxie oder wie der Vatikan für die Welt der Katholiken, genauso hoch war laut Pater Derenik der spirituelle Wert Dadiwanks für die Welt der Armenier.


Baku überträgt Dadiwank an die Gemeinschaft Udi

Ein Jahr später erweisen sich die Sorgen des Paters als berechtigt: Ende November hat Aserbaidschan die Verwaltung des mittelalterlichen Klosters offiziell an die Gemeinschaft der Uden übergeben. Die Uden sind laut Wikipedia eine kleine ethnische Minderheit im Nordwesten Aserbaidschans, die in erste Linie durch ihre Sprache ausgezeichnet ist. Die Minderheit soll insgesamt 10.000 Angehörige zählen. Die Mehrheit davon soll muslimischen Glaubens sein, ein kleiner Teil der Uden sind aber Christen.


Diese christlichen Uden, von denen man nicht weiss, wie viel sie wirklich sind, sollen nun herhalten, um die Geschichte im Sinne der Herrschenden zurechtzubiegen. Die aserbaidschanische Auslegung der Geschichte will nämlich, dass «die Armenier Berg-Karabach zwischen 1993 und 2000 besetzt hielten und während ihrer Besatzung die Geschichte des Tempels zu fälschen versuchten, indem sie behaupteten, Dadiwank gehöre ihnen. Nach der Befreiung wurde Dadiwank jedoch den ursprünglichen Besitzern zurückgegeben» _so die offizielle Politik. Und die ursprünglichen Besitzer sind dieser Theorie zufolge die christlichen Uden.


Abstruse These aggressiv propagiert

Für Aussenstehende mag die Debatte absurd und historisch verworren vorkommen. Es handelt sich allerdings um eine These, die von der Regierung Ilham Alijews konsequent und seit der ethnischen Säuberung von Bergkarabach 2023 besonders aggressiv propagiert wird. In Bergkarabach gäbe es keinerlei armenischen Denkmäler, hören aserbaidschanische Bürger in ihren Hochschulen, von ihren Politikern und ihren Medien. Die kulturellen Denkmäler seien nicht armenisch, sondern in Wirklichkeit «albanisch»; oder «udnisch». Wie die Uden lebte im östlichen Transkaukasien ein kleines christliches Volk, das sich Albaner nannte. Seine Spuren verlieren sich jedoch im 11. Jahrhundert.


Diese Theorie, auch als «Albanisierungstheorie» bekannt, hat ein realpolitisches Kalkül: Denn, wenn es keine historischen armenischen Kulturgüter in Bergkarabach gibt, dann seien die Armenier erst im 18. Jahrhundert mit den russischen Truppen nach Transkaukasien und Berg-Karabach gekommen. Folglich hätten die Vertriebenen kein Recht auf Rückkehr nach Bergkarabach.


Vergessene Schätze in grosser Gefahr

Die realen Folgen der Albanisierungstheorie sind jedoch erschreckend. Um die Realität mit der Theorie in Einklang zu bringen, ließ Ilham Alijew bereits alte Inschriften und bauplastische Motive, die eindeutigen Zeugnisse armenischer Kultur, aus Kirchen entfernen. Internationale Künstler und Organisationen sprechen seither von einer «Entweihung» armenischer Kulturgüter und Denkmäler. Steht dem Klosterkomplex von Dadiwank eine ähnliche Entwicklung, eine ähnliche Schändung bevor?


«Die Beschädigung von Kulturgütern, die einem Volk gehören, bedeutet eine Beschädigung des kulturellen Erbes der gesamten Menschheit», heißt es im Unesco-Bericht 2020. Verschiedene Konventionen wie die Haager Konvention von 1954 sehen den Schutz von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten vor. Lässt sich die drohende Zerstörung oder Albanisierung unzähliger Kulturschätze in Berg-Karabach, vor der Kunsthistoriker seit der Übergabe Dadiwanks an die Uden-Gemeinschaft Ende November eindringlich warnen, noch abwenden? Jeder Versuch wäre zu begrüßen. Denn es handelt sich oft um christliche Sakralbauten, Kirchen und Klöster, Kreuzsteine und Grabstelen aus dem frühen Mittelalter, wahre Juwellen der Kichen-Architektur. Ihre Zerstörung oder ihre Entweihung wäre ein unersetzlicher Verlust für das Weltkulturerbe der Menschheit.


Legende zu Foto: Kloster Dadiwank in Berg-Karabach



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