Zurück zu einer aussenpolitischen Priorität Südkaukasus
- Yoko ShTh
- 24. März
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. März
Werner Thut*
Kurz und knapp fallen sie aus – die Antworten des Bundesrats auf die zahlreichen
Vorstöße, mit denen Parlamentarier/-innen und die außenpolitischen Kommissionen
seit 2020 mehr Unterstützung für Armenien im Krieg gegen Aserbaidschan fordern.
Die Stellungnahmen bleiben vage oder umgehen die zentralen Fragen. Anstatt
konkrete Antworten zu liefern, verweist der Bundesrat auf allgemeine
völkerrechtliche Prinzipien, die gleichermaßen an Aggressor und Opfer adressiert
sind. Relevante Maßnahmen oder Initiativen werden nicht in Betracht gezogen.
Wie eine neue Studie zeigt, hielt diese neutralistische Haltung im Wesentlichen mit
dem Amtsantritt von Bundesrat Cassis im Jahr 2018 Einzug. Sie steht im Kontrast
zur engagierten und initiativen Außenpolitik der Jahre 2000 bis 2015, die dem Geist
und Wortlaut von Artikel 54 der Bundesverfassung deutlich mehr entsprach.
Mit deutlichen Mehrheiten hat das Parlament nun Gegensteuer gegeben und den
Bundesrat mit der Motion 24.4259 verbindlich beauftragt, innerhalb eines Jahres
einen Dialog zwischen Aserbaidschan und Volksvertretern der Bergkarabach-
Armenier zu organisieren. Ziel ist die Verhandlung über eine sichere und kollektive
Rückkehr der historisch ansässigen armenischen Bevölkerung. Über 100'000
Menschen dieser armenischen Exklave wurden im Herbst 2023 in einem Akt
ethnischer Säuberung innerhalb weniger Tage von Aserbaidschan vertrieben.
Die Parlamentsentscheidung wurde in Armenien und der weltweiten Diaspora,
einschließlich in der Schweiz, dankbar und teils begeistert aufgenommen. Doch
kann sie tatsächlich etwas bewirken?
Zugleich berichten die Medien von Fortschritten in den intensiven Verhandlungen
zwischen Armenien und Aserbaidschan – sogar von einem bevorstehenden
Friedensschluss. In diesem Zusammenhang unterstrich der armenische
Premierminister Nikol Pashinyan am 26. März 2025 im Parlament mehrfach,
dass die Karabach-Bewegung für die Selbstbestimmung des Volkes von Artsakh
nicht weitergeführt werden dürfe. Ist der Auftrag also nicht schlicht überflüssig?
Für die nächsten Schritte dürfte es hilfreich sein, sich von Fakten leiten zu lassen –
statt von Euphorie und Wunschdenken.
Der Parlamentsentscheid ist ein klares politisches Signal an den Bundesrat. Ob er
es zur Kenntnis nimmt und ernsthaft umsetzt, ist jedoch keineswegs garantiert. Die
Liste außenpolitischer Motionen, die in den vergangenen Jahren überwiesen, aber
vom Bundesrat – teils aus nachvollziehbaren Gründen – nur teilweise oder gar nicht
umgesetzt wurden, ist lang.
Dieses Schicksal könnte auch der Motion 24.4259 drohen, die einen Dialog unter
Beteiligung von Volksvertretern des 2023 von Aserbaidschan liquidierten De-facto-
Staates Bergkarabach fordert. Und das just in dem Moment, in dem ehemalige
Volksvertreter – heute in Baku inhaftiert – in Schauprozessen verurteilt werden.
Zudem könnten Optimisten und Opportunisten, für die Wegschauen die
vorteilhafteste Option für die Schweiz ist, entsprechende Anstrengungen als
überflüssig betrachten – schließlich scheint Frieden in Sicht.
Vieles deutet allerdings eher auf eine schrittweise Kapitulation Armeniens hin als auf
einen dauerhaften Frieden. Aserbaidschans Forderungen sind zahlreich und
substanziell: eine Änderung der armenischen Verfassung, den Rückzug aller Klagen
vor internationalen Gerichten samt Aberkennung bereits bestehender Urteile sowie
zusätzliche territoriale Ansprüche. Zudem verweigert Aserbaidschan internationale
Verifikationsmechanismen und fordert den Abzug der EU-Monitoring-Mission.
Parallel dazu wird Kriegspropaganda betrieben, und Kriegsgefangene aus Armenien
und Bergkarabach werden in Schauprozessen verurteilt. Mit der Ausweisung des
IKRK entfällt der letzte Schutzmechanismus für ihre faire Behandlung.
Schwer ins Gewicht fällt jedoch auch, was nicht zur Sprache kommt: Die zentrale
geopolitische Streitfrage – die Schaffung einer Transitverbindung durch die Region
Zangezur – bleibt unerwähnt. Unklar bleibt zudem die völkerrechtliche Natur des
diskutierten Friedensabkommens. Es ist stets nur von einem Agreement die Rede,
nicht aber von einem Treaty mit klaren Verpflichtungen und
Durchsetzungsmechanismen.
Mit anderen Worten: Der Konflikt ist mit hoher Wahrscheinlichkeit noch weit von
einer völkerrechtlich tragfähigen, dauerhaften Lösung entfernt. Es bedarf nicht
weniger, sondern mehr internationaler Aufmerksamkeit und Engagement, um einen
weiteren Krieg mit absehbar katastrophalen Konsequenzen für Armenien zu
vermeiden. Multilaterale Lösungsansätze unter Mitwirkung maßgeblicher Akteure,
insbesondere der EU, sind daher unverzichtbar.
Es wird politischen Willen und kreative Diplomatie seitens des EDA brauchen, um
die Motion nicht vorschnell als unerfüllbar abzutun. Und ein aufmerksames Auge von
Parlament und interessierter Öffentlichkeit, um dies zu verhindern.
Warum soll sich die Schweiz im Südkaukasus engagieren? Insbesondere Armenien
ist ein geopolitischer Brennpunkt, in dem namentlich Russland, die EU, die Türkei
und der Iran ihre sehr unterschiedlichen Interessen verfolgen. Mittlerweile ist auch
klar, dass über Krieg und Frieden in Europa nicht nur auf den Schlachtfeldern der
Ukraine entschieden wird. Eine Reihe von post-kommunistischen Staaten sind direkt
in den Konflikt hineingezogen. Eine Stärkung von Armeniens Verteidigungswillen,
Zukunftsperspektiven und Stabilität liegt daher auch im direkten
sicherheitspolitischen Interesse der Schweiz. Langfristig trägt dies auch zum Schutz
ihrer freiheitlichen Grundordnung und zum globalen Überleben bei.
Zu den Mitteln und Möglichkeiten der Schweiz gehören eine aktive Rolle und
Beiträge in internationalen Foren wie der OSZE, substantielle und eindeutige
Positionierungen auf der Grundlage von Völkerrecht und Menschenrechtsstandards
bei deren Missachtung, Angebote zur Teilnahme an Verifikations- und Monitoring-
Mechanismen sowie der Ausbau (statt einem drohenden Abbau) der
Entwicklungszusammenarbeit in der Region, und hierbei namentlich eine Stärkung
der bisherigen Ausrichtung auf regionale, grenzüberschreitende Zusammenarbeit.
Diese und weitere, im Einzelnen noch zu verfeinernde und zu priorisierende
Maßnahmen setzen jedoch im Departement von Bundesrat Cassis einen politischen
Gestaltungswillen voraus, wie er seit zehn Jahren nicht mehr vorhanden ist. Mit
anderen Worten: eine Rückkehr zu einer außenpolitischen Priorität Südkaukasus.
*Werner Thut war bis Juni 2024 stellvertretender Regionaldirektor des Schweizer
EZA-Programms im Südkaukasus. In dieser Funktion war er verantwortlich für das
DEZA-Programm in Armenien, wo er auch Stellvertretender Missionschef war.